Die Gegenwartsgeschichte Italiens hat einen beachtlichen Beitrag durch das Zeugnis von Pater Annibale Maria Di Francia und Don Luigi Orione erfahren, Seite an Seite im Erdbeben von Messina im Jahr 1908 und in der Heiligkeit.
Annibale Maria Di Francia und Luigi Orione
Zwei Heilige - eine Botschaft, nicht nur für Italien
Die Gegenwartsgeschichte Italiens hat einen beachtlichen Beitrag durch das Zeugnis von Pater Annibale Maria Di Francia und Don Luigi Orione erfahren, Seite an Seite im Erdbeben von Messina im Jahr 1908 und in der Heiligkeit. |
von Don Flavio Peloso
Generalpostulator des Kleinen Werkes der Göttlichen Vorsehung
Was Don Orione und Pater Annibale zusammenführte, war das schreckliche Erdbeben, das am Morgen des 28. Dezember 1908 von 5.20 Uhr an 37 Sekunden lang die Erde erschütterte und unter den Trümmern von Reggio Calabria und Messina 80tausend Tote begrub.
In Messina, der Stadt des Leidens, begegnete der Priester aus dem Norden dem Kanoniker Annibale Maria Di Francia, und miteinander schrieben sie eine der ruhmreichsten Seiten der tragischen Geschichte Messinas: Viele Menschen retteten sie aus der Verzweiflung, den vielen Waisen gaben sie eine Zukunft, sie organisierten die Solidarität der vielen großherzigen Menschen, die aus ganz Italien zur Hilfe kamen. Don Orione, in der Folge auf ausdrücklichen Wunsch des Papstes zum Generalvikar der Diözese Messina ernannt, stieß auf Widerstand, Feindseligkeit; auch ein Anschlag wurde auf ihn verübt. Ihm zur Seite stand gleich einem Schutzengel, ihn zu beraten und vor der Böswilligkeit unwürdiger Profitgeier zu beschützen, stets Pater Annibale. Aus den Trümmern des verheerenden Erdbebens spannten sie eine Brücke der Solidarität zwischen dem Norden und dem Süden Italiens.
Die – noch so zerbrechliche und zur Zeit unserer beiden Protagonisten im Norden wie im Süden kritisierte – Einigung Italiens wurde auch von Heiligen wie Pater Annibale Di Francia und Don Luigi Orione vollbracht. Von Massimo D’Azeglio stammt die Maxime, die wir in allen Büchern über die Geschichte Italiens finden: „Italien ist gemacht, nun müssen wir die Italiener machen.“ Um die Wahrheit zu sagen, Italien war gemacht und auch die Italiener waren schon gemacht. Zur Zeit von Pater Annibale und Don Orione war Italien jedoch noch tief gespalten, soviel ist sicher. Nicht genügt hatten die kühnen Taten verwegener Kriegshelden à la Garibaldi, und auch nicht die Schachzüge gewiegter Politiker à la Cavour und Giolitti; ja selbst der sorgsame Aufbau einer nationalen Identifikation um die Monarchie des Hauses Savoia sowie andere kollektive Symbole hatte keine Tiefenwirkung hinterlassen; genausowenig hatten die – ihrer Natur nach elitären – Wirtschaftsinteressen Entscheidendes vermocht.
Was der italienischen Einigung fehlte, war der Geist der Brüderlichkeit, der das wahre und unersetzliche Fundament der Einheit ist. Keine idealistische oder pietistische Brüderlichkeit, sondern eine im Einklang mit dem Respekt vor den Kulturen, mit der Solidarität, mit Geduld zunächst und Förderung der Vielfalt danach. Diese Brüderlichkeit hatten in der Tat nur wenige Ereignisse im Italien des beginnenden 20. Jahrhunderts in einem solchen Maß hervorgerufen wie das vom Erdbeben des Jahres 1908 verursachte Leid der kalabrisch-sizilianischen Bevölkerung und die unter den Trümmern der Städte und Dörfer bewiesene Solidarität großherziger Menschen aus ganz Italien. In Reggio Calabria und Messina konnte man in den Jahren nach dem Erdbeben alle Dialekte Italiens sprechen hören, neben dem geschliffenen und wohlgebildeten Italienisch der verschiedenen Tommaso Gallarati Scotti, Aiace Alfieri, Gabriella Spalletti Rasponi, Zileri Dal Verme, Gina und Bice Tincani und anderer.
Die Einigung Italiens wurde auch von Männern wie Don Orione vollbracht, der eine Kongregation gründet, alles zurücklässt – einschließlich der populär-soziologischen Vorurteile, die einen absurden Nord-Süd-Rassismus nährten –, vom Piemont nach Sizilien hinunterfährt und dort drei Jahre bleibt; am eigenen Leib bekommt er die auch in der katholischen Welt und im Klerus vorhandenen Vorurteile zu spüren, aber er liebt die Menschen dort und gibt ein Zeugnis der Brüderlichkeit ab, das unauslöschlich bleibt. Die Einigung Italiens wurde auch von Pater Annibale Di Francia vollbracht, der aus einem höheren, spirituellen Einklang heraus Freundschaft mit „diesem Priester aus dem Norden“ schließt, ihm beratend zur Seite steht und ihn verteidigt auch um den Preis, von seinen Landsleuten selbst wie ein Fremder behandelt zu werden; überraschend leiht er ihm eine große Geldsumme, damit der Priester aus dem Norden, der arm ist, ein Haus in Bra kaufen kann, in jenem Piemont, der in Sizilien immer noch als Usurpator und Profitgeier angesehen wurde.
Gewiss, die Gegenwartsgeschichte Italiens hat einen beachtlichen Beitrag durch das Zeugnis von Pater Annibale Maria Di Francia und Don Luigi Orione erfahren, Seite an Seite im Erdbeben und in der Heiligkeit. Mit ihrer Freundschaft und mit ihrem Dienst haben sie gezeigt, dass die Brüderlichkeit – Voraussetzung aller wahren und dauerhaften gesellschaftlichen Einigung – ihre Wurzeln in der höheren Vaterschaft Gottes hat, den die beiden Heiligen in der Seele angebetet und in den Brüdern geliebt haben.
EIN UNVERÖFFENTLICHTER BRIEF DES KANONIKERS DI FRANCIA AN DON ORIONE
Mein lieber P. Orione,
Mit großer Freude habe ich vom lieben Kan. Vitale, der nach Oria kam, vernommen, dass Sie in unserer Abwesenheit die Direktion unserer Institute übernommen haben!
Von diesem Augenblick an sind wir also alle Ihrer weisen Direktion unterstellt, und Sie werden unser Generaldirektor genannt. Schließen Sie dieses andere Werk als ein ihres in Ihr apostolisches Herz und treiben Sie es voran auf dem Weg seines doppelten Zweckes der Religion und der Wohltätigkeit durch Ihre inständigen Gebete, Ihre Ratschläge, Ihre Belehrungen und Ihre Anweisungen. Alle in allen Häusern sind wir mit der Hilfe des Herrn bereit zu seinem Gehorsam. Nun hoffe ich, dass das Heiligste Herz Jesu uns jene Gnaden gewähren wolle, die meine Unwürdigkeit nicht zu erlangen vermochte, und dem vielen vielen Übel, das ich angerichtet habe, Abhilfe schaffen wolle …
Ich stelle Ihnen mit dem ganzen Personal unser sieben kleinen Häuser jenes heilige Banner vor, worauf geschrieben steht: „Rogate ergo Dominum messis ut mittat Operarios in messem suam.“ Dieses göttliche Wort, das dem göttlichen Eifer entspringt, worin man ein großes Geheimnis des Heils für die Kirche und für die Gesellschaft enthält, mögen Sie aus dem ehrwürdigen Mund des göttlichen Erlösers empfangen, wie wir es empfangen und unseren Herzen eingeprägt haben, um daraus eine heilige Sendung zu bilden; seien Sie dessen Apostel und Herold.
Ich befinde mich in Sava, 10 Kilometer von Oria entfernt, wo verschiedene Personen eifern und arbeiten, um ein Haus unserer Schwestern zu bilden.
Mit der Bitte um Ihren Segen küsse ich Ihre Hände
EIN SCHRIFTSTÜCK VON DON ORIONE
Die Sizilianer hatten, als ich zum Papst [Pius X.] sprach, authentische Heilige. Ein Heiliger war der Kanoniker Di Francia, der hier [ in Tortona] und in der Villa Moffa gewesen ist, um den Priestern und den Klerikern die Exerzitien zu predigen. Sein Seligsprechungsprozess ist jetzt im Gang.
Wenn ich die Moffa gekauft habe, so habe ich sie gekauft, weil dieser Kanoniker mir zur Hilfe gekommen ist. Die Moffa habe ich gekauft, als ich noch in Messina war. Die Moffa hat 12 oder 17 Tausend Lire gekostet, das weiß ich nicht mehr so recht. Die Zeiten und der Wert des Geldes ändern sich. Und mir fehlten damals 5 Tausend Lire, die mir vom Kanoniker Di Francia geliehen, und die später zurückerstattet wurden. Denkt nur, was das für einen Piemontesen bedeutete, der sich dort befand! „Piemontese“ sagen, heißt Feind der Heiligen Kirche sagen, das war damals das Gleiche. In jenen Zeiten und noch einige Jahrzehnte danach war Piemontese sagen wie Feind des Papstes sagen, denn die revolutionäre Bewegung gegen den Papst war vom Piemont, von Turin, ausgegangen.
Und danach kam der Kanoniker Di Francia aus Sizilien an die Moffa, um die Exerzitien zu predigen, und er sagte mir etwas: Doch das sage ich euch nicht. [Alle sind gespannt, ob er es sagen wird. Er hält einen Augenblick nachdenklich inne und fragt dann lächelnd] War niemand von euch damals an der Moffa? [Es wird mit Nein geantwortet] Aha, dann kann ich es euch sagen. Er sagte mir: „Geben Sie acht, Sie haben hier Schurken, die vorgeben, fromm zu sein, die eine Berufung vortäuschen, die sie nicht haben: Trauen Sie den krummen Hälsen nicht. Je krummer der Hals ist, desto weniger darf man ihnen trauen.“ Das ist das Andenken, das mir dieser Heilige gab: Trauen Sie den krummen Hälsen nicht.
Tortona, nach der Lektüre des Martyrologiums, am 4. Februar 1940
„Don Orione, stets ein Mann der Kirche und des Papstes“
Seine kindesgleiche Treue zum Nachfolger Petri und seine große Nächstenliebe erstaunten die Päpste, die ihn kennenlernen durften. Einige, schon bevor sie auf den Petrusstuhl stiegen. Der Präfekt der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse läßt die Beziehung Don Oriones zu den Päpsten des 20. Jahrhunderts Revue passieren. |
von Kardinal José Saraiva Martins
Die wesentlichen Worte der Inschrift, die er für sich gewollt hätte, schrieb Don Orione einmal auf einem Blatt Papier nieder. Nämlich folgende: „Hier, im Frieden Christi, ruht der Priester Luigi Orione, von den Söhnen der Göttlichen Vorsehung, der stets ein Mann der Kirche und des Papstes war. Betet für ihn“ (Summarium, S. 978). Wer auch nur die leiseste Ahnung davon hat, wer dieser Mann war, den Johannes Paul II. als „genialen Ausdruck der christlichen Nächstenliebe“ definierte, weiß, daß sich der heilige Priester aus Tortona vor allem durch seine kindesgleiche Liebe zum Papst auszeichnete. „Mein Glaube ist der Glaube des Papstes, der Glaube Petri“ (Schriften, 49, S. 116). Und sein nicht nur für die Orionianer bestimmtes Lebensmotto lautete: „Das ist das Erbe, das ich euch hinterlasse: auf daß uns niemand an Liebe und Gehorsam übertreffe, die vollkommensten, die kindesgleichste, die süßeste, dem Papst und den Bischöfen gegenüber“ (Schriften, 20, S. 300). Aber seine grenzenlose Treue zum Lehramt des Papstes, von ihm so offen gelebt, verkündet und bekundet, vor allem Fakten und Tatsachen gegenüber, von denen es bedroht war, ist nicht Zeichen eines bigotten Fanatismus, sondern Bedingung für eine Umarmung universaler Liebe, wesentliches Merkmal einer offenen, grenzenlosen Spiritualität. Eine Treue-Einheit, die Don Orione nicht daran hinderte, seinen Weg zu gehen, „der Zeit voraus“, wie er bekräftigte. Eine Garantie, ein Bezugspunkt, die „Gewissheit, die Wege der Vorsehung zu beschreiten“ (Schriften, 61, S. 215) mit von Pioniergeist und Weitblick erfülltem Mut, in noch unerforschten Handlungsspielräumen, in Umarmungen, die unmöglich, ja gar verboten schienen, wie denen mit einigen Männern des Modernismus und Persönlichkeiten aus der Welt der Kultur und dem öffentlichen Leben, die ganz andere Gedankenwege beschritten als die Kirche.
So kommt es nicht von ungefähr, daß er mit dieser tiefen Verehrung für den Nachfolger Petri, „mit den Päpsten war“ – gleich fünf Päpsten. Die ihn bei verschiedenen Anlässen kontaktierten, ihn mit heiklen, spitzfindigen Fragen betrauten. Für sie vollbrachte Don Orione mit großem Scharfsinn sehr persönliche, engagierte, ja manchmal heldenhafte Aufgaben. Wenn wir also das Thema der kindesgleichen Nähe berühren, die Don Orione den Päpsten gegenüber fühlte, tauchen wir mitten in die Spiritualität und Geschichte dieses einfachen, außergewöhnlichen und heiligen Priesters ein. Seine Biographien sind voll von Episoden, aus denen sein Wirken an der Seite der Päpste des 20. Jahrhunderts hervorgeht.
Don Orione wurde 1872 geboren, zwei Jahre nach der Einnahme Roms, zur Zeit der zermürbenden römischen Frage und des Pontifikats des sel. Pius IX. Er hatte keine Gelegenheit, diesen Papst persönlich kennenzulernen, erlebte aber nicht nur, wie konfliktgeladen das Klima zur Zeit seiner Ausbildung war, sondern konnte auch die „Papsttreue“ spüren, die in breiten Schichten der katholischen Welt Italiens spürbar war.
1892, mit zwanzig Jahren, bereitete er eine Veröffentlichung vor, Il martire d’Italia, mit der er den Wert des Papstes demonstrieren und die vielen ideologischen und politischen Fehlinterpretationen seiner Person und seines Wirkens „entlarven“ wollte. „Pius IX.,“ schrieb Don Orione, „war die größte Persönlichkeit unseres Jahrhunderts, Freund und Wohltäter der Völker, unbestrittener Verfechter der Wahrheit und der Gerechtigkeit: seine Werke werden unsterblich sein, und sein langes Pontifikat, das stolze 32 Jahre gedauert hat, wird als eine der leuchtendsten Epochen in die Geschichte der Kirche und unseres Heimatlandes eingehen“ (Messaggi di don Orione, N. 102, S. 31).
Im Jahr 1904 war Don Orione vielleicht der erste, der beim neuen Papst, Pius X., vorstellig wurde, um ihn dazu zu ermutigen, den Heiligsprechungsprozess für seinen Vorgänger einzuleiten: „Seligster Vater, zu Ihren gesegneten Füßen liegend flehe ich Sie demütig an, daß Sie geruhen mögen, die Kausa des Heiligen Vaters Pius IX. in die Hand zu nehmen, und ich ermutige Sie, ihn verherrlichen zu wollen“ (ebd.). Der Prozeß wurde tatsächlich eingeleitet und Don Orione fungierte eine Zeitlang als Vizepostulator.
Leo XIII. war der erste Papst, dem Don Orione persönlich begegnete. Das Engagement und der Weitblick, den Papst Pecci in Sachen einer weniger passiven, engagierteren Präsenz der Katholiken im sozialen Leben an den Tag legte, beflügelten auch den jungen Orione zu hohen Idealen und heiligen Projekten. Daran, daß Don Orione von einer deutlich im sozialen Leben verankerten Spiritualität und einer pastoralen Aktion geprägt war, waren das Lehramt und die Richtlinien von Leo XIII., mit denen er in vollem Einklang stand, sicher nicht unschuldig. Unleugbare Spuren dafür sind in den ersten Satzungen seiner Kongregation zu finden, die während des Pontifikats von Leo XIII. ausgearbeitet und diesem bei der denkwürdigen Privat-Audienz vom 11. Januar 1902 überreicht worden waren. „Ich überreichte ihm die Regel – wußte Don Orione von dieser Audienz zu berichten –: er segnete sie, berührte sie, legte mir mehr als einmal die Hand aufs Haupt und tätschelte mich, machte mir Mut; er sagte mir so viele Dinge; auch, daß ich das Engagement für die Einheit der Kirchen des Ostens in die Regel aufnehmen solle: ‚Das ist einer meiner größten Ratschläge‘ sagte er“ (G. Papasogli, Vita di Don Orione, S. 138).
Dieses Anfang des 20. Jahrhunderts ungewöhnliche ökumenische und prophetische Engagement ist typische Frucht des Umstands, daß Don Orione tatsächlich „mit“ dem Papst war, also im Einklang mit ihm, ihm ergeben, stets bereit, dem Willen des Papstes nachzukommen. Wir wissen, daß die besondere Aufmerksamkeit Leos XIII. den Beziehungen zu den Ostkirchen galt. Seit der Zeit von Leo XIII. kann man von einem „katholischen Ökumenismus“ sprechen. Und Don Orione – ohnehin schon begeisterter Verfechter der Einheit der Kirche – zögerte nicht, auch diesen ökumenischen Ratschlag Leos XIII. in seine Regel aufzunehmen und bezeichnete sich nach der berühmten Audienz als „erfreut und voll des Trostes darüber, nicht geirrt zu haben bei den konstitutiven Kriterien der Regel“ (ebd.).
Der hl. Pius X. war zweifellos der Papst, der im Leben Don Oriones die entscheidendste Rolle gespielt hat. Von ihm sagte er: „Der Heilige Vater Pius X. wird stets unser größter Wohltäter sein, unser Papst!“ (Schriften, 82, S. 98). Nachdem er 1903 den Petrusstuhl bestiegen hatte, wählte Patriarch Giuseppe Sarto das Motto „Instaurare omnia in Christo“, das Don Orione schon vor 10 Jahren für seine Kongregation gewählt hatte. Dieser glückliche Zufall war Zeichen für die geistliche Affinität dieser beiden Männer und sollte sich auch auf die nachfolgende Geschichte ihrer Beziehungen auswirken.
Ihre erste Begegnung war wie die Antwort auf ein Gebet. Patriarch Giuseppe Sarto hatte den jungen Musiker Don Lorenzo Perosi nach Venedig gerufen, der nicht nur genauso alt war wie Don Orione, sondern auch aus demselben Ort stammte. Er erwies ihm die Ehre seiner Freundschaft, aß so manches Mal mit ihm zu abend und spielte mit ihm Karten. Der Vater Lorenzos, der fürchtete, der Kardinal könne seinen Sohn allzu sehr verwöhnen, vertraute sich Don Orione an. Dieser fackelte nicht lange, schrieb einen Brief an den Patriarchen und bat ihn, dem vielversprechenden „Maestrino“ keine Flausen in den Kopf zu setzen. Als der Brief dann tatsächlich abgeschickt war, hoffte er, über seine kleine, zwar respektvolle, aber doch gewagte „Gardinenpredigt“ möge alsbald Gras wachsen. Doch wie heißt es wieder? Papier ist geduldig! Als er, etwa 10 Jahre später, zum ersten Mal vom ehemaligen Patriarchen von Venedig, dem neuen Papst, in Audienz empfangen wurde, wollte er seinen Augen nicht trauen, als ihm dieser besagten Brief unter die Nase hielt. Doch der Heilige Vater war nicht erzürnt. Ganz im Gegenteil, er versicherte ihm, seinen Nutzen daraus gezogen zu haben: „Eine Lektion in Demut und Güte auch für den Papst“, lautete sein Kommentar (E. Pucci, Don Orione, S. 71f.).
Hier alle Dienste aufzulisten, die Don Orione Pius X. geleistet hat, alle Vertrauens- und Sympathiebeweise Pius’ X. Don Orione gegenüber – nach dieser Audienz – würde zu weit führen. Zwischen dem Heiligen Vater und dem jungen Priester aus Tortona konnte schon bald eine Beziehung entstehen, die von 100prozentigem Vertrauen geprägt war. Don Orione war stets bereit, alle ihm von Pius X. aufgetragenen Aufgaben zu erfüllen, auch wenn sie noch so heikel und delikat waren – wie das Amt des bevollmächtigten Generalvikars der Diözese Messina in den vier turbulenten Jahren nach dem großen Erdbeben von 1908, oder die, für die Aktion des Papstes den Modernisten gegenüber „verlängerter Arm“ zu sein, oft im Namen der Wahrheit von Strenge geprägt, doch stets von brüderlicher Liebe durchdrungen.
Aufgrund dieses loyalen und diskreten Sich-Verstehens der beiden Heiligen erlebte Don Orione persönlich oft Situationen, die von Schwierigkeiten und Unverständnis geprägt waren. „Er ist ein Märtyrer!“ sagte Pius X. über Don Orione am Ende von dessen Sendung in Messina (Summarium, S. 524). Bedeutungsvoll ist auch eine andere Episode, eine wahre, und wirklich dramatische. An einem gewissen Punkt angelangt, wurden durch die Tatsache, daß Don Orione Modernisten frequentierte, die mit kirchlichen Zensuren belegt worden waren, Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit laut. Pius X. wollte sich persönlich damit befassen. Er gab ihm ohne ersichtlichen Grund eine Audienz, durchforschte aufmerksam sein Gesicht, jedes seiner Worte. Dann hieß er ihn niederknien und das Credo beten. „Es befanden sich gegenüber der Oberste Hirte der Kirche, wegen seiner Verantwortung bangend – schrieb der Schriftsteller Tommaso Gallarati Scotti später –, und Don Orione, unschuldig, mit dem einfachen Glauben seiner Erstkommunion, aber unsere Sorgen und unsere Schuld tragend!“. Nachdem er, voller Inbrunst das Credo gebetet hatte, entspannten sich die Züge des Heiligen Vaters. Er entließ Don Orione mit den Worten: „Nun geh schon, mein Sohn... Was sie über dich sagen, stimmt nicht!“ (Papasogli, S. 227).
Auch zu Benedikt XV. unterhielt Don Orione zahlreiche persönliche Kontakte. Mit dem „Papst des Friedens“ stimmte er vor allem in dessen Programm eines entschlosseneren Universalismus des Missionswerkes überein. In diese Jahre fällt der mutige missionarische Aufschwung des Kleinen Werkes der Göttlichen Vorsehung, das nun Kurs nahm auf Lateinamerika, den arabischen Nahen Osten und das christliche Polen, mit Blick auf Rußland. Er selbst war damals, 1921 und 1922, in Brasilien, Argentinien und Uruguay. Nachdem er vom Wunsch des Papstes bezüglich der römischen Frage Kenntnis bekommen hatte, schrieb er einen mutigen Appell an die Staatsmänner, damit diese „einen mutigen Schritt nach vorn“ machen und eine Lösung herbeiführen würden (Schriften, 90, S. 352). Benedikt XV. schenkte Don Orione zu seinem 25. Priesterjubiläum einen Kelch und einen langen, von ihm handschriftlich unterzeichneten Brief, in dem er sein Verdienst anerkannte, „all diese Jahre nicht nur für Dich gelebt zu haben, sondern für das Gemeinwohl, zum bleibenden Vorteil der Heiligen Kirche“ (Papasogli, S. 367).
Die Beziehung Don Oriones zu Pius XI. war noch enger, es gab noch mehr Audienzen, Unterredungen und Berichterstattungen über vertrauliche und delikate Missionen, die durch die nicht weniger vertrauliche Beziehung zu Kardinal und Staatssekretär Pietro Gasparri noch mehr intensiviert wurden. So ging aus den Archiven beispielsweise erst kürzlich hervor, welch entscheidende und diskrete Rolle der Selige aus Tortona dabei gespielt hatte, die verwickelten Fakten um den hl. Pio von Pietrelcina zu klären. Am Ende eines schwierigen Vermittlungsversuches Don Oriones zur Vermeidung einer Initiative, die dem Prestige des Hl. Stuhls hätte schaden können, gab Pius XI. bei einer Audienz folgenden Kommentar ab: „Don Orione hat gearbeitet wie ein Pferd, aber er hat dem Papst Trost gebracht“ (Summarium, S. 894).
Das, was vielen Episoden und Aktionen um Don Orione und Pius XI. gemein ist, ist der Wille, Prestige und Zentralität des Papsttums zu fördern. In diesem Zusammenhang sind auch die bedeutungsvollen und effizienten Versuche Don Oriones zu sehen, die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen, die 1929 zur Aussöhnung zwischen Staat und Kirche in Italien führten. In dem Brief, den er 1923 an Mussolini schrieb, gab er zu verstehen, daß die wahre, die wirklich anzustrebende Aussöhnung die zwischen „Romanität“ und „Universalität“ des Papsttums wäre, die auch politische Autonomie und Freiheit voraussetzten (vgl. Messaggi di don Orione, 107, SS. 27-45). Diese Anschauung der geistlichen und zivilen Mission des Papsttums fand in jenen Jahren akzentuierter und gefährlicher Nationalismen in einer weitblickenden Prophezeiung Ausdruck: „Ich sehe Menschen aus allen vier Winkeln der Erde nach Rom kommen“, schrieb Don Orione. „Ich sehe, wie sich Ost und West in der Wahrheit vereinen, die schönsten Tage der Kirche bilden. Welch wunderbarer Bau wird das sein, vielleicht der schönste aller Zeiten, die pax Christi in regno Christi“ (Schriften, 86, S. 102).
Kardinal Eugenio Pacelli hatte Don Orione 1934 kennengelernt, während einer Schiffsreise von Italien nach Buenos Aires, und bei dem nachfolgenden Aufenthalt in der argentinischen Hauptstadt. Am 12. März 1939 wurde er mit dem Namen Pius XII. zum Papst gewählt, genau ein Jahr vor dem Tod Don Oriones. Gerade Zeit genug für einen Gruß, voller Sorge wegen des Kriegshauches, der schon deutlich spürbar war. Es war fast schon ein Bild-Testament: Don Orione an der Seite und „auf Knien“ zu Füßen des Papstes. Man schrieb den 28. Oktober 1939. Das Auto des Papstes machte an der Via Appia halt – dem „römischen Patagonien“, das Pius X. den Orionianern anvertraut hatte. Don Orione kam heran und kniete an der Seite nieder, umringt von den Mitbrüdern und den 1200 „Zöglingen“ des Instituts San Filippo. Der Papst wandte sich ihm zu. Don Orione nahm seine Hand, küsste sie und legte sie sich in einer demütigen, dankbaren, gläubigen Geste aufs Haupt. Pius XII. ließ ihn gewähren und spendete ihm liebevoll seinen Segen (Papasogli, S. 494). Als Don Orione wenige Monate später, am 12. März 1949, starb, definierte ihn Pius XII. als „Vater der Armen und großen Wohltäter der leidenden und verlassenen Menschheit“ (Summarium, S. 86).
Wir dürfen sagen, daß Don Orione an der Seite der letzten Päpste stand, die auf dem Petrusstuhl einander nachfolgten, und das nicht nur wegen der geistlichen Gemeinschaft, die die Kirche verbindet, sondern auch wegen der Erinnerung, die die Päpste an ihn hatten.
Johannes XXIII. erzählte bei verschiedenen Gelegenheiten von seiner ersten Begegnung mit Don Orione, als er, zu Beginn seines Dienstes am Hl. Stuhl, in den Zwanzigerjahren, aufgefordert wurde, bei ihm Rat zu holen. Er begab sich also zum Institut San Filippo, und der Portier sagte ihm, daß Don Orione im Garten sei. Dort fand er eine Gruppe von Jungen vor, die mit einem älteren Priester spielte. Dieser drehte sich zu ihm um und fragte ihn: „Monsignore, suchen Sie jemanden?“. „Ja, ich würde gerne Don Orione sprechen,“ antwortete Msgr. Roncalli. „Ich bin Don Orione. Haben Sie bitte einen Moment Geduld, ich spiele noch zuende, wasche mir die Hände, und bin dann gleich bei Ihnen.“ Diese mit soviel Höflichkeit und freundlich lächelndem Blick gesagten Worte beeindruckten den jungen Prälaten, der gerade erst von Bergamo nach Rom gekommen war, über alle Maßen. Noch am selben Abend schrieb er in sein Tagebuch: „28. März 1921. Ostermontag. Am Nachmittag habe ich mit Msgr. Guerinoni die Kirche und die Werke der Pfarrei Ognissanti besucht, vor der Porta San Giovanni; ich habe mich lange mit Don Orione unterhalten, von dem man wirklich sagen kann: contemptibilia mundi eligit Deus ut confundat fortia. Das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen (1Kor 1,27)“ (Messaggi di don Orione, 102, SS. 46-48). Eine Wertschätzung und eine Freundschaft, die niemals ausgelöscht werden sollten. Douglas Hyde, einem englischen Journalisten, der fragte, welche Eigenschaft die auffälligste Don Oriones wäre, antwortete: „Ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der soviel Nächstenliebe besaß wie Don Orione. Seine Nächstenliebe ging weit über das normale Maß hinaus. Er war überzeugt, daß man die Welt mit der Liebe erobern kann“ (ebd., S. 49).
Und auch Paul VI. konnte in den Genuß der Freundschaft und der Kollaboration Don Oriones kommen. Bei einer Papst-Audienz erinnerte er sich: „Uns war der außerordentliche Trost gegönnt, ihn bei einem unserer Besuche in Genua kennenzulernen. Er sprach mit einer so einfachen, entwaffnenden Offenheit, die so ehrlich, so liebevoll war, so geistlich, daß auch mein Herz gerührt war und ich nur staunen konnte über die von diesem so einfachen, demütigen Mann ausgehende spirituelle Transparenz“ (Audienz vom 8. Februar 1978). Diese erste Begegnung veranlasste Msgr. Montini, in den Dreißigerjahren, Don Orione für eine delikate und gute Sache zu gewinnen: die Hilfe für in Schwierigkeiten geratene Priester – lapsi, wie man sie damals nannte –, denen es unter die Arme zu greifen und die Richtung zum Guten zu weisen galt (Messaggi di don Orione, 105, SS. 65-71). Die Wertschätzung und die persönliche Verehrung, die Montini Don Orione entgegenbrachte, umfaßte auch seine Kongregation, die er großzügig unterstützte, vor allem während seiner Zeit als Bischof in Mailand.
Johannes Paul I. und Johannes Paul II. haben Don Orione nie persönlich kennengelernt. Ersterer bezeichnete ihn als „Strategen der Nächstenliebe“, der derzeitige Papst dagegen konnte ihn zu Beginn seines Pontifikats seligsprechen, und vertraute zwei Tage später den in Audienz empfangenen Orionianern, Priestern und Schwestern, an: „Ich denke, daß dieser aus Polen gekommene Papst im Paradies einen neuen Patron hat, dessen Fürsprache er gewiß sein kann und der – im Licht des Reiches, dem wir angehören und nach dem wir streben – seinen Dienst unterstützt, seine Initiativen und seine menschliche Schwäche an diesem Platz, an den ihn die göttliche Vorsehung zu setzen, zu rufen, beliebt hat. Dieses große Vertrauen, das ich in die Fürsprache des sel. Don Orione setze, möchte ich vor Ihnen allen ausrufen, die ihr seine geistlichen Töchter und Söhne seid, vor Ihnen allen, die ihr meine Landsleute seid“ (Audienz vom 28. Oktober 1980).
Diese Erinnerungen der außerordentlichen Hingabe, die Don Orione im Laufe der Jahre den Päpsten gegenüber unter Beweis stellte, helfen uns, unsere Liebe, unsere Hingabe und unsere Treue dem Papst gegenüber zu erneuern. Und so klingt die Botschaft Don Oriones noch heute: „Wir müssen Tausende und Abertausende von Herzen um das Herz des Papstes pochen lassen. Wir müssen ganz besonders ihm die Kleinen und die Klasse der einfachen Arbeiter bringen, müssen dem Papst die Armen, die Leidenden, die Ausgestoßenen bringen, die Christus die Liebsten sind und der wahre Schatz der Kirche Jesu Christi. Von den Lippen des Papstes wird das Volk nicht Worte vernehmen, die zum Klassenhaß aufstacheln, zur Zerstörung und zum Völkermord, sondern Worte ewigen Lebens, die Worte der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Liebe: Worte des Friedens, der Güte, der Harmonie, die uns auffordern, einander zu lieben, einander die Hand zu reichen, um gemeinsam voranzuschreiten, einer besseren, christlicheren und zivileren Zukunft entgegen“ (Briefe, II, S. 490).
„Da sah ich, daß in seinen Augen Tränen schimmerten...
...Noch nie war ich einem Erwachsenen begegnet, der sich einem Jungen auf so ehrliche, einfache Art zu öffnen verstand.“ Lesen Sie hier den Zeugenbericht von Ignazio Silone beim Seligsprechungsprozess Don Oriones. |
von Ignazio Silone
Ich lernte ihn 1916 kennen. Nach dem Erdbeben von Marsica, 1915, hatte ich ihn flüchtig gesehen. Don Orione hatte eine Gruppe von Kindern um sich versammelt, die der Katastrophe entgangen waren, keine Familie mehr hatten. Er wollte sie nach Rom bringen, aber die Bahnstrecke war unterbrochen, der erste Bahnhof konnte erst nach vierzig Kilometern Fußmarsch erreicht werden. Vor Ort hatte sich bereits der König mit seinem Gefolge eingefunden, sie hatten ihre Autos dort geparkt. Don Orione ließ die Kinder in die Autos steigen, um sie zum Bahnhof fahren zu können. Die Carabiniere versuchten, ihn daran zu hindern, aber er ließ sich nicht einschüchtern, lud unbeirrt weiter Kinder in die Autos. In der Zwischenzeit kamen der König und sein Gefolge zurück und wollten in ihre Autos steigen. Don Orione trat respektvoll an ihn heran und erklärte ihm, warum er die kleinen Waisen so einfach in die Autos gesetzt hatte. Der König hatte Verständnis und gab Don Orione die Erlaubnis, die kleinen Waisen zu transportieren. So konnte er mit ihnen in den ersten Zug nach Rom steigen und sie in das Haus „Casa di Sant’Anna die Palafrenieri“ bringen.
Doch erst 1916 habe ich Don Orione wirklich persönlich kennengelernt. Damals hatte man mich – damit ich mein Abitur machte – in ein Kolleg gesteckt, das von strengen Ordensleuten geleitet wurde. Kurz vor Weihnachten riß ich aus – ohne plausibles Motiv. Ich lief weg, ohne mir bewußt zu sein, was ich tat, ohne ein Ziel zu haben, einfach nur, weil ich gesehen hatte, daß das Tor offenstand. Ich hatte nur wenig Geld dabei, und natürlich kein Gepäck. Ich mietete mich in einer kleinen Pension in Bahnhofsnähe ein. Dort blieb ich drei Tage, beobachtete die Züge, wie sie ankamen und abfuhren. In der Zwischenzeit war mein Verschwinden bemerkt und bei der Polizei gemeldet worden. Und so kam am dritten Tag ein Polizist und brachte mich wieder ins Kolleg zurück. Dort mußte ich auf die Antwort meiner Großmutter warten, die mein Vormund war und über meine weitere Zukunft befinden sollte. Die Antwort meiner Großmutter ließ nicht lange auf sich warten: sie teilte mir mit, daß ein gewisser Don Orione bereit wäre, mich in einem seiner Häuser aufzunehmen. Mein Direktor hatte mit ihm abgesprochen, daß wir uns auf dem Bahnhof in Rom treffen sollten. An dem vereinbarten Platz und zur vereinbarten Zeit traf ich einen mir unbekannten Priester vor, nicht den, den ich ein Jahr zuvor in den Trümmern meines Dorfes gesehen hatte. Ich dachte, daß Don Orione verhindert sei. Der Priester nahm mein Gepäck und wir stiegen in den Zug. Da wir die ganze Nacht reisen mußten, fragte er mich, ob ich mir etwas zu lesen mitgenommen hätte, ob ich eine Zeitung wolle, und wenn ja, welche. L’Avanti [der sozialistischen italienischen Partei], antwortete ich. Eine unverschämtere Bitte hätte ich wohl kaum an ihn richten können. Aber er ließ sich nichts anmerken, stieg noch einmal aus und brachte mir tatsächlich die gewünschte Zeitung. „Warum ist Don Orione nicht gekommen?“ fragte ich ihn schließlich. „Ich bin doch Don Orione!“ meinte er. „Entschuldige, daß ich mich nicht vorgestellt habe.“ Schnell ließ ich die Zeitung verschwinden und stammelte eine Entschuldigung, dafür, daß ich ihn die Koffer hatte tragen lassen. Er lächelte und vertraute mir an, daß er ganz gern ab und zu Koffer tragen würde. Ja, er gebrauchte ein Bild, das mir überaus gefiel – „die Koffer tragen wie ein Packesel“ – und meinte: „Ich will dir ein Geheimnis anvertrauen: Meine Berufung wäre es, wie ein authentischer Packesel Gottes leben zu dürfen, wie ein authentischer Packesel der göttlichen Vorsehung.“
So begann unsere Unterhaltung, die – abgesehen von kurzen Pausen – die ganze Nacht dauerte. Obwohl wir uns nie zuvor begegnet waren, unterhielt sich Don Orione mit einer Einfachheit, einer Natürlichkeit und Vertraulichkeit mit mir, die ich nie zuvor erlebt hatte. Erst am Abend, als nur noch eine kleine Lampe brannte, erkannte ich in den Zügen Don Oriones den Priester wieder, den ich ein Jahr zuvor gesehen hatte. Ich sagte es ihm, erinnerte ihn an die Episode mit den Autos des königlichen Gefolges. Er dagegen erzählte mir, wie schwer diese Tage gewesen wären. Berichtete von den schrecklichen Wanderschaften, die er in jenen Tagen auf sich genommen hatte; daß er 27 Tage gebraucht hatte, um das gesamte Gebiet hinter sich zu legen, daß er in dieser Zeit nie zu Bett gegangen wäre, keine einzige Nacht durchgeschlafen hätte. Sobald er eine gewisse Anzahl von Waisenkindern „eingesammelt“ hatte, brachte er sie nach Rom, um dann sofort wieder in das Katastrophengebiet zurückzukehren und noch mehr Kinder zu holen. Er erzählte mir auch von seiner einfachen Herkunft, von der Armut seiner Familie. Sein Vater war ein einfacher Straßenarbeiter gewesen, und als Junge hatte er ihm oft beim Pflastern der Straßen geholfen. Eine wahre Knochenarbeit. Und auch als man ihn am Diözesanseminar aufgenommen hatte, mußte er sich als Mesner in der Kathedrale Kost und Logis verdienen. Er erzählte mir bewegende Geschichten aus seiner Jugend. Beispielsweise von seiner ersten Reise nach Rom, wo er den Papst sehen wollte und nichts anderes bei sich hatte als einen Laib selbstgebackenes Brot und fünf Lire.
Ich hätte ihm stundenlang zuhören können: in mir machte sich ein nie gekanntes Gefühl des Friedens und der Ruhe breit. Was mir im Gedächtnis blieb, war die ruhige Zärtlichkeit in seinem Blick. Das Licht in seinen Augen war von der Güte derer, die geduldig jede Art von Leid ertragen haben, auch die geheimsten Leiden kennen. Ich konnte mich manchmal nicht des Eindrucks erwehren, daß er besser in mir lesen konnte als ich selbst, ja, daß er sogar meine Zukunft sah. „Ich will dir etwas sagen, was du nicht vergessen sollst,“ vertraute er mir an. „Denk immer daran: Gott ist nicht nur in der Kirche. Wie viele Momente blanker Verzweiflung wirst du in der Zukunft noch erleben! Aber auch wenn du meinst, allein und verlassen zu sein, bist du es nicht. Vergiß das nie!“. Da sah ich, daß in seinen Augen Tränen schimmerten. Noch nie war ich einem Erwachsenen begegnet, der sich einem Jungen auf so ehrliche, einfache Art zu öffnen verstand.
Wir kamen gegen Mittag in Sanremo an. Am Abend, als Don Orione wieder fahren mußte, hörte ich, wie er jemanden nach mir suchen ließ, weil er sich von mir verabschieden wollte. Ich aber versteckte mich. Ich wollte nicht, daß er mich weinen sah. Wenige Tage später, am Morgen des Weihnachtstages, bekam ich den ersten Brief von ihm. Einen herzlichen, ganz außergewöhnlichen, 12 Seiten langen Brief. Don Orione erzählte mir bei einer der von uns gemeinsam gemachten Reisen, daß er am Abend des 19. September in Avezzano angekommen wäre, ein oder zwei Jahre nach dem Erdbeben, und daß er am Morgen danach hinausging, um die Messe zu feiern. Nach der Messe kam ein Botschafter auf ihn zu, der ihm sagte, er solle unverzüglich zum Bischof kommen. Der Bischof fragte ihn, ob er die Flagge gekauft hätte, die auf dem Wohltätigkeitsinstitut wehte. Don Orione verneinte. Doch der Bischof sagte ihm, er solle nie wieder einen Fuß in die Diözese Marsi setzen, solange er lebe. Don Orione erzählte das mit großer Ruhe, aber auch mit einer gewissen Traurigkeit.
Ich war ungefähr 20 und arbeitete als Reporter für eine recht umstrittene Wochenzeitschrift, hatte kein Geld, und niemand kannte mich. An Weihnachten ging ich in ein kleines Restaurant, versuchte, so wenig Geld wie möglich auszugeben. Aber am Ende war die Rechnung doch höher als ich gedacht hatte. Der Besitzer verlangte meinen abgetragenen Regenmantel als Unterpfand für den von mir geschuldeten Rest. Draußen regnete es in Strömen. Als ich hinausging, erinnerte ich mich daran, daß ich Don Orione ein paar Tage zuvor in einem Wagen vorbeifahren hatte sehen. Ich beschloß, in Sant’Anna vorbeizuschauen in der Hoffnung, ihn dort anzutreffen. Der Hausmeister versicherte mir zwar, daß er da war, wollte mich aber nicht zu ihm lassen. Ich ließ mich jedoch nicht abwimmeln, und als ich noch mit dem Hausmeister herumstritt, kam auf einmal Don Orione herein, grüßte mich und steckte mir ein Bündel Geldscheine in die Tasche – etwas mehr als die Summe, die ich im Restaurant schuldig geblieben war. Eine merkwürdige Geste, denn ich hatte Don Orione noch nie um Geld gebeten. Auf einer Reise von Cuneo nach Reggio Calabria, auf der ich ihn begleitete, beschloß er, in Rom einen Zwischenstop einzulegen, weil ihm das Geld für die Weiterfahrt fehlte. Doch auf dem Bahnhof in Rom kam ein Mann zu ihm und steckte ihm einen Umschlag zu. Er dankte ihm und meinte: „Jetzt können wir weiterfahren.“ Seine Art, an Gott zu glauben, der ihm vertrauter war als die weltlichen Dinge, war einfach beeindruckend. Ebenso wie die Nächstenliebe, die den Kontakt mit seinen Ansprechpartner ermöglichte, deren Zukunft er manchmal vorhersagte.
Das gesagt, und bevor er zu den Artikeln befragt werden konnte, gab der Zeuge folgende Erklärung ab: „Ich habe alles gesagt, was ich über Don Orione weiß, und will nichts mehr hinzufügen.“
Ignazio Silone
Rom, 10. November 1964